Kolumne Ganz Deutschland spricht über Deutsch-Rap der härtesten Sorte. Denn seit Netflix die Doku „Babo – Die Haftbefehl-Story“ im Streaming-Angebot hat, wissen auch Menschen, die ansonsten keine Berührungspunkte mit dem Genre haben, wer Aykut Anhan bzw. Haftbefehl ist. Der Film von Regisseur Sinan Sevinç und „Spiegel“-Journalist Juan Moreno landete sofort auf Platz 1 der Netflix-Charts. Kick-Media-Vorstandschef Alexander Elbertzhagen hat ihn ebenfalls gestreamt und ist höchst beeindruckt. Und er empfiehlt einen Brückenschlag – von Haftbefehl über Reinhard Mey bis zum Singer-Songwriter Betterov. Foto © Netflix

22. November, 2025

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Haftbefehl: Soundtrack zum Stadtbild

Ganz Deutschland spricht über Deutsch-Rap der härtesten Sorte. Denn seit Netflix die Doku „Babo – Die Haftbefehl-Story“ im Streaming-Angebot hat, wissen auch Menschen, die ansonsten keine Berührungspunkte mit dem Genre haben, wer Aykut Anhan bzw. Haftbefehl ist. Der Film von Regisseur Sinan Sevinç und „Spiegel“-Journalist Juan Moreno landete sofort auf Platz 1 der Netflix-Charts. Kick-Media-Vorstandschef Alexander Elbertzhagen hat ihn ebenfalls gestreamt und ist höchst beeindruckt. Und er empfiehlt einen Brückenschlag – von Haftbefehl über Reinhard Mey bis zum Singer-Songwriter Betterov.

Liebe Freundinnen und Freunde des smalltalk,

das Wort „Haftbefehl“ stammt aus dem Strafrecht. Für Deutsch-Rap-Fans ist es aber vor allem der Künstlername (vielleicht passt in dem Genre aber auch der französische Begriff „nom de guerre“ besser) eines ihrer Helden: Aykut Anhan. Er ist Haftbefehl. Mit der Single „Chabos wissen, wer der Babo ist“ mischte er die Szene auf. Heute gilt er als einer der größten deutschsprachigen Rapper überhaupt. Dass am Ende des Jahres 2025 auch außerhalb der Szene nahezu jeder in Deutschland weiß, wer dieser Typ namens Haftbefehl ist, liegt aber vor allem an einem Dokumentarfilm, der seit Wochen für Furore, Kontroversen und Headlines sorgt: „Babo – Die Haftbefehl-Story“.

Jan Delay, also jemand, der mit dem Genre bestens vertraut ist, sagt in dem Film, Haftbefehl rappe wie kein Zweiter. Dessen Songs sind eben auch wortgewaltige Momentaufnahmen aus den sozialen Randlagen der Gesellschaft. Doch nicht nur dort wird der Star aus Offenbach gefeiert. Auch und gerade Mittelschicht-Kids lieben ihn. Das war einst beim übel beleumdeten Jazz und beim bösen Rock’n’Roll auch nicht anders. „Haftis“ Musik ist der Soundtrack zur Merz’schen Stadtbild-Debatte.

In „Babo – Die Haftbefehl-Story“ geht es selbstverständlich um Musik. Doch vor allem geht es um einen Menschen unserer Zeit. Und diesem Menschen kommen die Regisseure Juan Moreno und Sinan Sevinç so nahe, wie ich das in kaum einer anderen Dokumentation je gesehen habe. Der Protagonist ist so unfassbar mutig, dass er scheinbar ohne Scheu auch seine tiefsten psychischen Verletzungen und Kränkungen, aber auch seine mit erschreckender Geschwindigkeit fortschreitenden körperlichen Gebrechen zeigt. Das Hauptthema ist nun mal Drogenabhängigkeit und deren schreckliche Folgen.

Und deswegen diskutiert Deutschland. Der jugendliche Rap-Fan genauso wie die 80-jährige Großmutter, die das Schicksal der Enkelgeneration einfach nicht kalt lässt. Muss man zeigen, wie sehr Kokain den Körper eines Menschen zerstört? Wie das Teufelszeug Geist und Seele malträtiert – wenn Aykut beispielsweise nur mit sich und der Kamera im Raum ist und mit seinen Dämonen spricht? Über Szenen wie diese muss man reden.

Doch in „Babo – Die Haftbefehl-Story“ gibt es auch Momente, in denen deutlich wird, dass der harte Rapper ganz anders kann. Dass er vor allem musikalisch über den Tellerrand schaut und beispielsweise gerne Reinhard Mey hört. Besonders das lyrische Lied „In meinem Garten“ hat es ihm angetan. Die 55 Jahre alte Aufnahme katapultierte Mey Anfang des Monats in die Top 20 der Charts. Bei Spotify ist „In meinem Garten“ längst der beliebteste Titel des bald 83-jährigen Liedermachers. Durch Haftbefehl berühren sich also musikalische und poetologische Welten. Ich glaube, dass wir in unserer Gesellschaft mehr Brückenschläge dieser Art brauchen. Sonst bleibt Toleranz nur ein Wort.

Zum ersten Mal nach der Veröffentlichung der erschütternden Doku kehrte Haftbefehl am vergangenen Wochenende wieder auf die Bühne zurück. Mit verhülltem Gesicht und dunkler Sonnenbrille absolvierte er in einem Club in Gießen einen Kurzauftritt mit einigen seiner bekanntesten Songs: „069“, „Rücken an der Wand“, „Ich rolle mit meim Besten“ und natürlich „Chabos wissen, wer der Babo ist“. Und gestern gab es sogar eine Neuveröffentlichung: „Dünya Garip“, sein erster rein türkischer Song. Der Titel bedeutet so viel wie „Merkwürdige Welt“.

Der in einer tatsächlich merkwürdigen Welt lebende drogenkranke Fatalist des Films hat also noch nicht aufgegeben. Das ist vor allem angesichts einer Szene der Doku nicht selbstverständlich. Darin konfrontieren ihn die Filmemacher mit seinen Erfolgen. Auf ihre sich daraus ergebenden Fragen antwortet Aykut Anhan selbst mit einer Frage: „Und dann?“ Goldene Schallplatten – „und dann?“ Erfolg – „und dann?“ Genau diese „Und-dann“-Frage ließ schon so manche Superstars in Sinnkrisen oder gar Depressionen und Sucht abstürzen. Diesem Abgrund kann man nur mit neuen Zielen und vor allem Disziplin entkommen.

„Babo – Die Haftbefehl-Story“ hat das Genre Dokumentation völlig überraschend auf eine neue Höhe gehievt. Ich gratuliere den Machern dieser Netflix-Produktion zu ihrem großartigen Film und hoffe, dass der Protagonist einen Weg aus seiner Hölle finden wird. Aber Aufstieg und Fall gehören bei Pop- und Rockstars leider zum beinahe schon geforderten Berufsbild! Und genau diese Anforderung hat Aykut Anhan erfüllt wie kaum ein anderer – doppeltes Ausrufezeichen!!

Ich wünsche Ihnen ein weiterhin schönes Wochenende!

Alexander Elbertzhagen

(Herausgeber smaltalk)

PS: Ein anderes aktuelles Musikthema möchte ich Ihnen an diesem Wochenende ebenfalls ans Herz legen: Der Singer-Songwriter Manuel Bittorf alias Betterov hat gerade sein neues Album „Große Kunst“ veröffentlicht. Auch wenn er im Refrain des Titelsongs singt: „Bei uns gab es keine große Kunst“, ist Betterovs Musik genau das – große Kunst. Auch mal mit Anspielungen auf Goethe und den Barockkomponisten Johann Pachelbel. Das Album kam in die Top Ten. Und das zu Recht.

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